Venus ist nicht gleich Venus. Hilfreich ist es, bei der Deutung ihre Stellung in Bezug zur Sonne zu berücksichtigen: Steht Venus westlich der Sonne, ist sie nur vor Sonnenaufgang sichtbar. Dann wird sie als Morgenstern bezeichnet. Folgt sie hingegen der Sonne im Tageslauf, kann man sie am Himmel erst bei Sonnenuntergang, also am Abend erkennen. Als solche wird sie Abendstern genannt.
Bereits Platon unterscheidet zwischen Aphrodite Pandemos und Aphrodite Urania. Erstere ist die „gemeine“ oder „irdische“ Liebe, letztere die „himmlische“. Die Venus als Morgenstern entspricht dem irdischen Aspekt der Göttin – und im astrologischen Sinne dem Frühlingszeichen Stier. Am Himmel können wir sie sehen, wenn der Tag noch frisch ist und das Erleben noch vor uns liegt. Lebenslust und Sinnlichkeit stehen hier im Mittelpunkt. Alles Haptische wird genossen.
Anders die Venus als Abendstern, die mit der himmlischen Liebe und dem Waage-Zeichen korrespondiert. Wir sehen sie in der Abenddämmerung, wenn der Tag zu Neige geht und wir das Erlebte einem höheren Sinn zuordnen wollen. Wir blicken zurück (und zu den Sternen hinauf). Sie hat kaum Realitätsbezug sondern ist flüchtig. Im Tarot finden wir sie als die 18. Karte der großen Arkana wieder: der Stern. Diese Karte folgt der Karte „Turm“ und steht der Karte „Mond“ voran. Nach dem Aufbruch (Turm) weist sie uns einen Weg, bevor Nacht und Dunkelheit (Mond) uns wohlmöglich in die Irre leiten. Sie hat geistige und spirituelle Bedeutung.
Wir müssen uns jedoch davor hüten, diese unterschiedlichen Formen zu bewerten. Die irdische Liebe ist nicht etwa niederer als die himmlische. Es handelt sich um völlig unterschiedliche Qualitäten. Die Trennung zwischen Fleischeslust und hehrer, abstrahierter Liebe ist ein Überbleibsel christlich-kirchlicher Tradition. Es nutzt nichts, die Wollust zu verdammen. Denn wenn Venus / Aphrodite nicht bekommt, was sie will, nimmt sie es sich mit Gewalt. Die Mythologie zeigt das deutlich: Venus kann auch mit List und Härte der Befriedigung ihrer Bedürfnisse Nachdruck verleihen. Dabei geht sie nicht zimperlich vor. Warum auch: im eigenen, venusischen Erleben hat sie scheinbar auch ein Recht dazu; ein Naturrecht. Aphrodite gilt als Vertreterin des Naturrechts – im Unterschied zu Hera, die das Matrimonium repräsentiert.
Die junge, sinnlich-erotische Göttin rein als Sinnbild der Fruchtbarkeit zu betrachten, hieße jedoch zugleich, sie wiederum nicht in ihrer Ganzheit zu verstehen. Die genießende Venus als Morgenstern, die Frühlingsbotin, beinhaltet durchaus den Aspekt des Gebärens und Gedeihens. So gehört unter anderem der fortpflanzungsfreudige Hase zu ihren Attributen. In ihrer Gestalt als Abendstern, als Aphrodite Urania wird sie in künstlerischen Darstellungen hingegen mit Tauben abgebildet, dem Symbol des Geistes.
Unsere Aufgabe liegt nun darin, beide Anteile in unser Leben einzubeziehen – eine geradezu tantrische Herausforderung. Die Stellung als Morgen- oder Abendstern Im Horoskop verrät die Ausgangsbasis, also die Art der Liebe, die uns „leichter“ fällt. Aber gleichermaßen wie Morgen- und Abendstern nur zwei unterschiedliche Momente ein und des selben physischen Himmelskörpers sind, so bleibt uns die Möglichkeit erhalten, die ergänzende Seite ebenfalls in unser Leben zu integrieren. Hier ist jedoch (je nach Stellung und Aspektierung) mehr Arbeit vonnöten.
Wenn Sie Venus in einer Radix deuten möchten, dann prüfen Sie also, ob es sich um eine Morgenstern-Venus oder eine Abendstern-Venus handelt. Entsprechend ändern sich die Herrschaftsbereiche. Stellen Sie sich ein Horoskop mit Stier-Aszendent und Waage an der Spitze des sechsten Hauses vor. Nehmen wir an, Venus befindet sich am MC. Erst durch die Betrachtung, ob es Venus Morgenstern oder Abendstern ist, können die Bezüge innerhalb des Horoskop geklärt werden. Bei einer Morgenstern-Venus (dem Stier zugeordnet) verbinden sich in diesem Beispiel das zehnte mit dem ersten Haus (Herrscherin von 1 in 10). Ganz anders sähe die Deutung bei einer Abendstern-Venus aus, bei der die Verbindung zur Waage (in diesem Beispiel Haus 6) gesucht werden muss. Diese Differenzierung hilft somit, die innere Struktur einer Radix deutlicher zu erfassen.