Armando Rodrigues de Sá kam mit dem Zug nach Deutschland. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend betrat er in einer zerschlissenen Jacke in Köln deutschen Boden, beflügelt von dem Wunsch, hier Arbeit zu finden. Bei seiner Einreise sprach der 38jährige kein Deutsch und verstand zunächst nicht, was all die schreienden Menschen von ihm wollten. Wozu der Blumenstrauß, bestehend aus Nelken und was stand wohl auf dem amtlich aussehenden Papier? Überall Kameras und Blitzlichtgewitter und Männer, die offenbar wichtige Ämter einnahmen. Dass einer davon der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie im Regierungsbezirk Köln war, wusste der dunkelhäutige Rodrigues de Sá zu diesem Zeitpunkt nicht. Ein bisschen unwohl fühlte er sich neben dem Anzugträger schon; immerhin hatte er sich auf seiner dreitägigen Reise nicht adäquat waschen können. Noch am Gleis schmetterte im Hintergrund eine Kapelle ein Lied aus seinem Heimatland. Ein sicheres Land, schön, warm, seine Frau und Kinder lebten noch dort. Wirtschaftliche Gründe trieben ihn in die Bundesrepublik. Gegen den Willen seiner Frau wagte er die Reise nach Deutschland; dort erhoffte er sich eine finanzielle Verbesserung seiner Lebenssituation. Geld für ein Haus wollte er. Ob es dann auch noch für ein Auto reichen würde? Doch noch stand er auf dem Bahnhof. Zwischen all dem Trubel wuselten die Deutschen dann schließlich auch noch mit diesem Moped herum. Nach einigem Hin-und-her verstand er: die Deutschen wollten ihm dieses Zweirad schenken! Was für eine Ankunft! Die Rheinische Post veröffentlichte am nächsten Tag: „Arbeitgeberverband, Arbeitsverwaltung und ein Riesenaufgebot von Fernsehen, Funk und Presse hatten sich gestern morgen auf dem Bahnhof Köln Deutz bereitgestellt um den millionsten Gastarbeiter in der Bundesrepublik mit einem Ritual zu empfangen, das auch einen Weltgewandteren hätte erblassen lassen“ (1). Es war der 10. September 1964. Deutschland zeigte sich weltoffen, freundlich und pflegte Ausländern gegenüber eine Willkommenskultur, die ihren Namen verdient.
Rajid Alkano betont, dass er weder Haus noch Auto wolle. Seine Wünsche klingen bescheidener als die von Rodrigues de Sá: er möchte nachts in Frieden schlafen. Bei einer Podiumsveranstaltung bittet er um Verständnis: „Ich weiß, wir stellen euch vor Probleme, aber ich habe nichts mehr. Ich möchte, dass ihr versteht, warum wir hier sind.“ Und er ergänzt: „Kein Syrer wäre hier, wenn es in unserem Land friedlich wäre …. wir fliehen vor dem Krieg.“ (2) Zunächst hatte er es bis in den Libanon geschafft. Dort wäre er geblieben, doch das ging nicht. Was Alkano zu diesem Zeitpunkt nicht ohne Blick auf die
politische Weltbühne erkennen konnte: die Weltgemeinschaft weigerte sich , die nahe an Syrien liegenden Flüchtlingslager im Libanon zu unterstützen und veranlasste damit alle, die noch irgendwie konnten, zur weiteren Flucht nach Europa. Hier empfing man ihn weder mit Blumen noch mit großem Bahnhof, sondern mit Pegida und Brandanschlägen. Zum Glück aber auch mit ehrenamtlichen Deutschkursen und einem Heer empathischer Helfer.
Das Deutschlandhoroskop
„Die Sterne zwingen nicht, sie machen nur geneigt“ hat Thomas von Aquin geschrieben. Unter Astrologen gängig ist die Auffassung, dass Konstellationen am Himmel einen Rahmen abbilden, innerhalb dessen man sein Verhalten selbst wählen kann. So kann Saturn im zweiten Horoskophaus als Glaubenssatz gelebt werden, man sei zu nichts nutze und wertlos, was sich dann in Armut widerspiegelt. Zugleich beinhaltet Saturn im zweiten Haus das Talent, Verantwortung für die eigenen Werte zu übernehmen und sich mit fleißigem Bemühen einen angemessenen Reichtum zu erarbeiten. Der Himmel gibt sozusagen die Konstellation vor; was wir daraus machen ist unsere Sache.
Horoskope kann man nicht nur für Menschen erstellen, sondern auch für Länder; auch für Deutschland. Schaut man sich das Deutschlandhoroskop an, so erkennt man aktuell einen Quadrat-Aspekt des transitierenden Chirons auf die Venus in der Radix. Chiron selbst bewegt sich durch das sechste Haus des Deutschlandhoroskops. Exakt an der gleichen Stelle befand er sich vor ca. 51 Jahren, als der millionste Gastarbeiter willkommen geheißen wurde.

Was bedeutet diese Konstellation?
Chiron gilt unter Astrologinnen als Symbol für eine Wunde. Dabei denkt man zu oft an eine destruktive Verletzung. Doch der Kosmos will uns nichts Böses – es sitzt kein Gott über dem Sternenhimmel, der sich teuflisch über fiese Wunden-Konstellationen freut. Denken Sie stattdessen an eine Geburt: eine Geburt geht mit Wunden einher; vom Platzen der Fruchtblase bis zur Abstoßung der Nachgeburt (Plazenta). Blutergüsse und Nähte nach der Geburt sind keine Seltenheit. Eine Wunde ist also auch der Durchbruch zu einem neuen Erfahrungsfeld. Der Chirurg, der das Skalpell ansetzt, fügt dem Patienten eine Wunde zu, die letztlich der Heilung dienen soll. Im übertragenen Sinn erhält die Beziehung zwischen Eltern und Kind eine Wunde, wenn der Nachwuchs das Elternhaus verlässt und in die Welt hinaus zieht. Die Schneise, die sich der Pionier durch das Unterholz schlagen muss, gleicht einer Wunde. Somit ist Chiron nicht nur ein Symbol einer schlimmen Erfahrung, sondern eben auch der Wunde, die entsteht, wenn man sich weiter entwickelt. Manche Kollegen beschreiben daher Chiron auch als Schlüssel, der Türen zu öffnen in der Lage sei.
Venus steht im Deutschlandhoroskop (3) im neunten Haus; dem Bereich, der u.a. für Auslandsbeziehungen, für „das Fremde“ steht. Zugleich regiert Venus über den Aszendenten im Zeichen Waage. Somit dient sie in besonderer Weise zur Identifikation; denn der Aszendent ist das, was das Wesen der Persönlichkeit, hier: das Wesen des Landes ausmacht. Friedlich, diplomatisch, kontaktoffen, manchmal etwas wankelmütig und allzu vorsichtig. Herr 1 in 9 heißt im Deutschlandhoroskop auch, dass wir uns über die Auslandkontakte identifizieren. Kein Wunder, dass die Bundesrepublik Exportweltmeister geworden ist und diplomatische Beziehungen zu fast allen Staaten unterhält.
Chiron, der Brückenbauer
Aktuell ist Deutschland also aufgefordert, sein Verhältnis zu anderen Kulturen, anderen Ländern und dem, was „fremd“ ist, auf eine neue Ebene zu heben. Es liegt an uns, ob wir Chiron als Belastung, als Zerrissenheit, als Gewalt interpretieren oder als Chance, eine Brücke zu bauen. Als Brückenbauer gilt Chiron, weil er Saturn und Uranus miteinander verbindet. Tatsächlich streift seine Umlaufbahn die Umlaufbahnen dieser beiden anderen Planeten. Ja, Chiron transportiert Kränkung und Verletzung, aber zugleich auch Potenzial, Einsicht und Übergang. In der Mythologie war er ein weiser Lehrer mit vielfältigen Gaben und als Pädagoge eine Art Geburtshelfer der Talente vieler Götter des Olymps.
Chiron kommt im Deutschlandhoroskop aus dem dritten Haus, dem Haus der Kommunikation. Man befleißigt sich damit schnell einer verletzenden Sprache und der Auftrag lautet, hier eine ganz besondere Sensibilität an den Tag zu legen. Dass dies eine schwierige Aufgabe ist, die man mit markanten Sprüchen alleine nicht zu lösen vermag, lässt sich an dem Quadrat ablesen: es ist ein Arbeitsaspekt, der viel Mühe verlangt. Möglicherweise heißt es demnach auch, Stellung zu beziehen gegen die diplomatischen Freunde im Ausland. Die Wunde, die wir hier schaffen bezieht sich womöglich darauf, dass wir Kriegstreiber benennen und uns selbst an Kriegsgeschäften nicht länger beteiligen. Wäre Deutschland Klient meiner Beratungspraxis, würde ich das zumindest mal thematisieren.
Sicherlich: zwischen 1964 und 2015 gibt es auch am Planetenhimmel Unterschiede. Die Situation ist weder im politischen Tagesgeschäft noch in der astrologischen Transitliste identisch. Doch wenn sich eine Konstellation wiederholt, hilft es meist zu schauen, wie man früher mit dieser Konstellation umgegangen ist. War das damals hilfreich? Was kann man aus dem lernen, was man erfahren hat?
Die Sonne leuchtet allen Menschen
Ich biete nun seit mehr als 15 Jahren Astrologie-Ausbildungen an. Dabei begleite ich die Schülerinnen und Schüler drei Jahre lang und mit vielen ehemaligen Studierenden halte ich auch später noch Kontakt. Dabei fällt auf, dass die Menschen nicht nur die Technik der Horoskopdeutung lernen, sondern sich auch Grundfragen des Menschseins widmen. Man lernt unter anderem , dass es Sachverhalte gibt, die sich aus einem Horoskop nicht ableiten lassen. Beispielsweise kann niemand alleine aus einer Radix das Geschlecht des Horoskopeigners erkennen. Auch Hautfarbe, Rasse, Geburtsland oder Religion sind nicht erkennbar. Klar wird stattdessen, dass alle Menschen unter den gleichen Sternen geboren werden. Armando Rodrigues de Sá , Rajid Alkano, Sie, der Sie gerade diesen Text lesen und auch ich – wir haben alle die gleichen Planeten in unseren individuellen Geburtshoroskopen. Mond, das Symbol für ein Bedürfnis nach Nähe, Schutz, Vertrautheit und Emotionalität findet sich in jedem Horoskop eines Kriegsvertriebenen, der es geschafft hat, deutschen Boden zu erreichen. Für seine gefährliche Flucht brauchte er Mut, also Mars, den Sie ebenfalls in Ihrem Geburtsbild finden werden. Astrologie lehrt, dass Menschen mehr verbindet als trennt. Die Grundbedürfnisse teilen wir alle gleichermaßen. Kein Wunder, dass alle Astrologie-Schüler unisono berichten, dass das Studium der Astrologie sie toleranter gemacht habe. In einer bis dato unverständlichen Handlung seines Gegenübers erkennt man auf einmal das dahinter liegende Bedürfnis. Die Art und Weise, wie das persönliche Geburtsbild zusammen gesetzt ist, bleibt durchaus höchst individuell. Die Bausteine, aus denen es sich zusammensetzt, sind zugleich bei jedem Menschen identisch. Ein bisschen ähneln Horoskop dem Lego-Prinzip: die Grundbausteine sind gleich, das was man daraus baut, kann dann verschieden aussehen. Nehmen wir die äußere Form weg, bleiben als Kern die völlig gleichen Einzelelemente.
Astrologie ist Humanismus
Astrologie und Fremdenfeindlichkeit – das geht nicht zusammen. Wer ernsthaft in die philosophische Dimension der Astrologie eingetaucht ist, der hat verstanden, dass Menschen mehr Gemeinsamkeiten haben, als vordergründig zu sehen sein mögen. Hass auf Menschen aus anderen Kulturkreisen, Hetze über Menschen, die nicht sofort all die in Deutschland typischen Rituale beherrschen, Demütigung, Misshandlung und Gewalt verbietet sich für astrologisch Interessierte. Wer Angst vor „Überfremdung“ hat, dem empfehle ich einen Blick in die eigene Radix. Denn ein weiterer Grundsatz der Astrologie lautet: nur das, was in Dir selbst steckt, kann von außen „angetriggert“ werden. Anders gesagt: Deine Außenwelt ist ein Spiegel Deiner Innenwelt. Wenn Du Dich also von lauter Feinden umgeben siehst, könnte das sein, weil Du selbst der Welt feindlich gegenüber stehst.
Deutschland erlebt einen Pluto-Transit
Mit Transit-Pluto im Quadrat zum Radixmond im Deutschlandhoroskop sind wahrhaft große Umwälzungen angezeigt. Auch spiegelt dies die Angst (Pluto) wider, die in manchen Teilen der Bevölkerung (Mond) Fuß zu fassen versucht. Aus der Psychologie wissen wir, dass Angst selten ein guter Ratgeber ist. Und der erwähnte Aspekt lässt sich ja auch konstruktiv deuten: Verhaltensmuster, die man längst überwunden zu haben glaubte, tauchen unter diesem Transit gerne wieder auf und jetzt haben wir die Möglichkeit, diese endgültig zu transformieren. (4) Dazu ist eine authentische Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen erforderlich. Oft ist auch Trauerarbeit nötig in Bezug auf das, was man in der Vergangenheit verloren hat. Es ist insofern ein Transit der Neugeburt, weil man die Vergangenheit hinter sich lassen kann,
wenn man die Zeit „therapeutisch“ nutzt. Wie bei jeder Therapie ist Mut erforderlich, die Leichen im Keller anzuschauen. Fast schon könnte man Pegida und Co. dankbar sein, dass sie uns die alten Schmutzreste zeigen, die stellenweise unter der Oberfläche noch vor sich hin faulen; würden sie doch bloß dabei nicht neuen Schmutz produzieren und mit Dreck um sich werfen. Plutotransite sind immer Veränderungstransite. Sie konfrontieren uns mit Machtansprüchen und Ohnmachtsgefühlen. Und führen letztlich in ein vollmächtiges Handeln. Pluto ist zugleich das Symbol für Schätze, die es zu heben lohnt. Versuchen wir, die Menschen, die Deutschland bereichern, als Ressource zu sehen! Nur was wir integrieren, kann dem Staat insgesamt Kraft geben. Oder will hier irgendjemand Krieg im eigenen Land? Refugees welcome!
(1) http://www.iberer.angekommen.com/Mio/millionster.html
(2) http://www.oberhessen-live.de/2015/10/16/ich-moechte-dass-ihr-versteht-warum-wir-hier-sind/
(3) Ich nutze das Deutschlandhoroskop 23. Mai 1949
(4) Siehe auch: Frank Felber: 710 Transitaspekte
Alle Bilder CC0 Public Domain via pixabay.com
Horoskopzeichnungen mit Sarastro