Kann man als Mensch, der Astrologie betreibt, rassistische Ansichten vertreten? Andere Menschen abwerten, weil sie eine bestimmte Hautfarbe, ein anderes Geschlecht, eine mir fremde sexuelle Orientierung oder eine Behinderung aufweisen?
Ich meine: Nein.
Betrachtet man ein Horoskop, kann man zwar die Planeten in den Zeichen und Häusern und vieles mehr deuten, aber etwas Entscheidendes, kann man nicht: man kann einem Horoskop nicht entnehmen, ob es das Geburtsbild eines Mannes oder einer Frau ist.
Angenommen, man weiß nun, dass es das Horoskop einer Frau ist: Trotzdem kann man der Radix nicht entnehmen ob diese nun asiatische, europäische oder afrikanische Wurzeln hat. Im Grunde wissen wir nicht einmal, ob es sich um das Horoskop eines Menschen handelt, oder um das eines Esels.
Jedes Horoskop setzt sich aus den gleichen Bausteinen zusammen: den Planeten, den Tierkreiszeichen und den Häusern. Alle weitere Faktoren sind Ableitungen davon, wie etwa die Halbsummen, Mondknotenachse, Aspekte und so weiter. Wir Menschen, egal ob alt oder jung, intelligent oder dumm, egal mit welchem Pass in der Tasche: wir alle tragen die gleichen Grundfaktoren in uns. Es verbindet uns mehr als uns trennt. Jeder und jede trägt ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe in sich (Venus), jede und jeder braucht Abgrenzung und vergleicht sich im Wettbewerb mit anderen (Mars), jeder und jede möchte sich mitteilen und gehört werden (Merkur) und wir alle streben nach Sinn im Leben (Jupiter).
Manchmal sagen Astrologie-Interessierte Sätze wie „ich habe kein Löwe in meinem Horoskop“. Damit meinen sie, dass das Zeichen Löwe unbesetzt ist. Doch irgendwo in ihrem Horoskop befindet sich das Tierkreiszeichen Löwe und auch diese Menschen wünschen sich Anerkennung, haben ihren (vielleicht versteckten) Stolz und können herzlich und großzügig sein – alles Löweeigenschaften.
Wer sich mit Astrologie beschäftigt kommt nicht um die Erkenntnis herum, dass wir Menschen in unseren Grundbedürfnissen einander gleichen. Sicherlich: die Ausprägungen ergeben dann individuelle Unterschiede. Nehmen wir nur mal das Aszendenten- und das Sonnenzeichen. Die Sonne kann in zwölf verschiedenen Tierkreiszeichen stehen, der Aszendent ebenso. Das ergibt 12 x 12 also 144 unterschiedliche Kombinationen. Dabei haben wir noch nicht einmal berücksichtigt, auf welchem Tierkreisgrad genau jeweils Sonne und Aszendent stehen – auch das hat seine Bedeutung. Doch bleiben wir auf der reinen Zeichenebene und nehmen den Mond hinzu, der sich ebenfalls in zwölf verschiedenen Tierkreiszeichen aufhalten kann, so müssen wir zu den 144 Kombinationen noch mal den Faktor zwölf hinzufügen und kommen auf 1.728 verschiedene Varianten. Würden wir die Tierkreisgrade berücksichtigen, wie oben skizziert, dann landen wir bereits bei mehr als 46,5 Millionen Kombinationsmöglichkeiten (um genau zu sein: 46.656.000).
Gleichheit und Individualität schließen einander also nicht aus. Trotz der Abermilliarden Kombinationen, die sich ergeben, wenn wir alle weiteren Faktoren hinzunehmen, bleibt Venus stets Venus und Mars stets Mars. Das heißt: Die Art und Weise, wie ich Genuss leben und welchen Stellenwert ich ihm einräume (ein Venusthema) ist von Person zu Person unterschiedlich – die Auseinandersetzung mit Genuss wird aber in jedem Leben eine Rolle spielen.
Wertschätzung und Mitmenschlichkeit ergibt sich, wenn ich diese Grundbedürfnisse bei meinen Mitmenschen wahrnehme und annehme – und gleichzeitig ihre individuelle Art und Weise, die Grundbedürfnisse zu äußern, akzeptiere (sofern die Art und Weise eben nicht Dritte schädigt). Dabei spielen beispielsweise Hautfarbe oder sexuelle Orientierung keine Rolle. Eine lesbische Frau hat mit ihrem Mond im Horoskop ein Bedürfnis nach Nähe ebenso wie ihre heterosexuelle Kollegin. Der Neptun im Horoskop einer Person of Color* zeigt ebenso wie im Horoskop eines weißen Menschen eine Verschmelzungssehsucht, den Wunsch nach Frieden oder spirituelle Begabungen an.
Wer Astrologie betreibt, kann kein Rassist sein. Wer rassistisch, behindertenfeindlich, frauenverachtend, homo- oder transphob oder anderweitig ausgrenzend spricht und agiert und gleichzeitig Horoskope deutet, hat die Grundlagen der Astrologie noch nicht richtig verstanden. In diesen Fällen wird der Astrologie eine menschenfeindliche Ideologie übergestülpt.
Astrologie ist ein Weg zu mehr Humanität. Eigentlich sogar darüber hinausgehend: zu mehr Liebe zu allen lebenden Wesen. Erinnern Sie sich noch im Text oben an das Beispiel mit dem Esel? Wir können auch auf die Geburt eines Tieres ein Horoskop erstellen. Auch dieses Horoskop setzt sich aus den gleichen Bausteinen zusammen.
Astrologieschülerinnen und -schüler berichten mir immer wieder, dass sie über die Beschäftigung mit der faszinierenden Wissenschaft und Kunst der Horoskopdeutung mehr Gelassenheit im Umgang mit ihren Mitmenschen gewonnen haben. Sie haben erkannt, dass jeder seine eigenen Schwachstellen hat und die Qualitäten der Radixfaktoren unterschiedlich verteilt sind. Und sie haben gelernt, dass uns mehr verbindet, als uns trennt. Wie wäre es, wenn wir in unserem Alltag diesen Erkenntnissen zu noch mehr Leben verhelfen? Lasst uns einander die Herzen sehen, keine Hautfarben.
* Person of Color (Singular) oder People of Color (Plural), abgekürzt PoC, ist „eine internationale Selbstbezeichnung von/für Menschen mit Rassismuserfahrungen. Der Begriff markiert eine politische gesellschaftliche Position und versteht sich als emanzipatorisch und solidarisch. Er positioniert sich gegen Spaltungsversuche durch Rassismus und Kulturalisierung sowie gegen diskriminierende Fremdbezeichnungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft.“ (Amadeu-Antonio-Stiftung, Glossar: Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit, 2014, www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/juan-faecher.pdf, S. 15)
Foto mit herzlichem Dank von Monstera Production: https://www.pexels.com/de-de/foto/2-frauen-im-weissen-hemd-mit-rundhalsausschnitt-6238119/