Die Deutung eines Horoskops ist „verschmiert“? Ja – und das ist gut so!
Um das zu verstehen, müssen wir zunächst die gegenwärtige Ambivalenz in der astrologischen Praxis berücksichtigen.
Wenn wir ehrlich sind, verhalten sich Astrologen und Astrologinnen der Gegenwart oft schizophren. Auf der einen Seite betonen sie die Akausalität der Astrologie. Gerade gegenüber Astro-Kritikern, die das Einwirken planetarischer Kräfte auf das irdische Individuum bezweifeln, wird die Synchronizität zitiert. Demnach gibt es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Oben und Unten. Oft wird das Beispiel mit der Uhr angeführt, die die Zeit zwar anzeige, aber nicht mache. Ebenso läge die Ursache für bestimmte irdische Ereignisse nicht in den Konstellationen der Himmelskörper begründet. Die Planeten zeigen nur etwas an, machen aber nichts. Kausale Verbindungen werden also negiert.
Andererseits arbeiten Astrologinnen oft streng kausal. Das Horoskop wird nach einer „Wenn-Dann-Formel“ gedeutet. Wenn Saturn im zweiten Haus steht, dann weist dies auf eine Selbstwertproblematik hin. Hier wird linear-kausal gedeutet. Daran ändern auch kosmetische Formulierungen nichts: „Saturn in zwei ist ein Hinweis auf eine Selbstwertproblematik“ geht auf die gleiche Grundannahme zurück, nämlich dass wenn Faktor A gegeben (Saturn in Haus 2), dann Faktor B (Selbstwertproblematik) eintritt.
Können wir zugleich die Theorie der Astrologie akausal, die Praxis der Astrologie hingegen kausal aufbauen?
Die Entwicklung der Physik ist in den letzten Jahrzehnten andere Wege gegangen. Nachdem über viele Generationen die Kausalität die naturwissenschaftlichen Disziplinen beherrschte, wandelt sich langsam das Bild. Früher ging man davon aus, dass die Welt in kleine Bausteine zerlegt werden kann. Man war sich sicher, dass man irgendwann das kleinste aller Bausteine finden würde. Aus diesen Kleinstbausteinen setze sich letztlich die gesamte Welt, ja womöglich der gesamte Kosmos zusammen. Dabei spielt es jetzt keine Rolle, ob wir diese Kleinstbausteine Atome, Quarks, Preonen oder sonstwie nennen. Entscheidend ist, dass die Kleinstbausteine unzerstörbar sind – also eben nicht mehr in noch kleinere Einheiten zerlegt werden können. Somit sind diese Kleinstbausteine auch zeitlich unzerstörbar. Das heißt: sie mögen sich zwar im Laufe der Zeit neu zusammensetzen, aber prinzipiell hat es sie schon in der Vergangenheit gegeben und wird es sie auch in der Zukunft geben; sie sind schließlich unzerstörbar. Die „alte“ Physik konzentrierte sich nun darauf, die Gesetzmäßigkeiten zu erfassen, wie sich diese Teilchen neu formieren beziehungsweise eben auch beständig bleiben.
Von Perlen, die keine sind und Schnüren, die es nicht gibt
Stellen wir uns solch einen Kleinstbaustein als Perle vor, dann ist jede einzelne Perle an einer eigenen Perlenschnur aufgefädelt. Die Welt besteht nach dieser Anschauung aus Abermilliarden hoch Abermilliarden Schnüren. Natürlich ist das ein großes Kuddelmuddel, aber gelänge es, eine Schnur zu extrahieren, so könnte man sehen, dass ein Teilchen vor Tausend Jahren bereits bestand und auch in Tausend Jahren noch bestehen wird.
Stellen Sie sich vor, dass die Perlen auf der Schnur locker hin und her gleiten können. Wenn wir die Schnur spannen und der Perle einen Schubs geben, dann können wir präzise voraussagen, welche Strecke diese Perle zurücklegen wird.
In der klassischen Physik ist es also möglich, den Ausgangs- und Endpunkt einer Perle auf ihrer Schnur zu bestimmen.
Nun haben die Ergebnisse der quantenmechanischen Forschung bei den Physikern jedoch ganz neue Sichtweisen herausgefordert. Demnach gibt es die Perlen auf unserer Schnur so gar nicht. Nennen wir ab jetzt die Perlen „Elektron“. Das Problem beginnt bereits, wenn wir den Ort eines solchen Elektrons bestimmen möchten. Auf der Perlenschnur war das einfach – doch bei den Elektronen ist das kompliziert. Denn ein Beobachter kann nur Angaben über den Ort eines Teilchens machen, wenn er auf Angaben zum Impuls des Teilchens verzichtet. Anders herum: wenn er etwas über den Impuls des Teilchens wissen will, dann muss er auf den Aufenthaltsort verzichten. Das Elektron, das sich wie unsere Perle auf der Schnur bewegen soll, kann also nur von seiner Bewegung her (dem Impuls) oder dem Ort her (auf der Schnur) bestimmt werden.
Es bleibt also immer eine Unschärfe. Wir können ein Elektron also nie richtig beobachten. Heisenberg nannte diesen Effekt daher „Unschärferelation“.
Und damit nicht genug: Nun könnte man ja sagen, das sei uns ganz egal. Wir sehen zwar nicht, wo sich die Elektronen-Perlen auf der Schnur befinden, aber sie befinden sich eben auf einer Schnur und gleiten dort entlang von A nach B. Doch die Gesetzmäßigkeiten der Quantenphysik widersprechen auch hier. Wenn wir wissen, wo in etwa sich das Elektron befindet, dann können wir lediglich vorhersagen, in welche Region der Wahrscheinlichkeit nach es sich vermutlich hinbewegen wird. Sie merken: die Angaben sind ziemlich ungenau. Warum? Es fehlt eben die Schnur. Es ist nachvollziehbar, dass sich kaum sagen lässt, wo eine Perle landen wird, von der wir nicht wissen, wo ihr Ausgangspunkt ist und die nicht auf einer Schnur aufgefädelt wurde. Sie kann letztlich überall landen.
Akausales im Lebensalltag
Auch wenn dies ein spannendes Thema ist, kehren wir jetzt wieder zurück zu der Ausgangsfrage. Die ist schließlich nicht minder spannend. Diesen kurzen Ausflug in die Quantenmechanik habe ich nur gemacht, um zu zeigen, dass die neueren Forschungen die Physiker zwingen, kausale Zusammenhänge in den Hintergrund treten zu lassen. Eigentlich für alle, die geisteswissenschaftlich aktiv sind, keine Neuheit. Während die klassische Physik noch postulierte: „gleiche Ursachen fordern gleiche Wirkungen“, so ließ sich dieses Prinzip beispielsweise auf den Bereich der Pädagogik noch nie übertragen. Gleiche Ursachen erzeugen hier verschiedene Wirkungen. So nimmt man ein Kind auf dem Jahrmarkt mit ins Riesenrad (Ursache), dann ist es begeistert von der Weitsicht, die es hoch über dem Erdboden schwebend hat (Wirkung). Doch bereits das nächste Kind in der Riesenrad-Gondel (Ursache) erschrickt und bekommt Angst, herunterzufallen (Wirkung). Dergleichen Beispiele finden Sie selbst tausendfach: das Lesen eines Kapitels aus dem Roman Buddenbrooks von Thomas Mann (Ursache) führt bei einigen Personen zu Begeisterung (Wirkung), bei anderen hingegen zu Müdigkeit (ebenfalls Wirkung).
Auch anders herum lässt es sich beschreiben: gleiche Wirkungen können verschiedene Ursachen haben. Jemand hat endlich seine Prüfungsangst überwunden (Wirkung), weil er sich vermehrt Prüfungen ausgesetzt hat und dabei feststellte, nicht vom Prüfungsteam aufgefressen zu werden (Ursache). Jemand anderes hat ebenfalls seine Prüfungsangst überwunden (Wirkung), nachdem er seine innere Festigkeit durch Meditation erlangte (Ursache).
Abschließend noch eine im Alltag immer wieder zu beobachtende, nicht-zwangsläufige Kausalität: kleine Ursachen können große Wirkung haben und große Ursachen kleine (oder gar keine) Wirkung. Von der Hoffnung „kleine Ursache, große Wirkung“ leben die Wettbüros und Glücksspielanbieter: sechs Kreuze auf dem Lottoschein (kleine Ursache) sollen zu einem Millionengewinn führen (große Wirkung). Tatsächlich ist es jedoch so, dass ich selbst dann, wenn ich Abertausende von Lottoscheinen ausfülle (große Ursache), doch bestenfalls auf dem ein oder anderen Tippzettel einen Dreier richtig habe (kleine Wirkung).
Wir sehen: die Kausalität erfasst unsere Lebenswirklichkeit nicht gut. Die Quantenphysik hat eigentlich nur noch auf der Hochschulebene das bestätigt, was wir aus unserem Alltagserfahrungsschatz ohnehin schon wissen: Leben ist akausal, nicht linear.
Astrologie: Lichtschein in der Möglichkeitswolke
Kommen wir zurück zu unserem astrologischen Beispiel „Saturn in Haus zwei“. Die Astrologie ist selbstverständlich nicht frei von den Naturgesetzen. Auch hier gilt, was in der Teilchenphysik in den letzten Jahrzehnten beobachtet wurde und wir in anderen Wissenschaftsdisziplinen, die den Geist des Menschen zu erforschen suchen, schon weitaus länger beobachten können: Linearität ist nicht gegeben. Zusammenhänge bestehen, aber sie sind akausal. Dies gilt deshalb, weil wir es in der Astrologie eben nicht mit grober Materie zu tun haben, sondern mit Geist und Psyche des Menschen. Astrologie ist keine Sternenkunde, sondern Menschenkunde. Das müssen wir bei den Deutungen berücksichtigen! In der Quantenphysik spricht man davon, dass ein mikrophysisches Teilchen „verschmiert“ ist, solange es unbeobachtet bleibt. Es bewegt sich sozusagen in einer „Möglichkeitswolke“, wobei diese Wolke auch Möglichkeiten beinhaltet, die sich gegenseitig ausschließen. Sie haben vielleicht schon mal was von „Schrödingers Katze“ gehört. Das ist ein Gedankenexperiment, nach dem besagte Katze in einer verschlossenen Box gleichzeitig tot und lebendig sein kann. Ob sie nun tot oder lebendig ist, entscheidet sich erst im Moment, da man die Box öffnet und hinein schaut. Wir haben also „verschmierte“, aber eben keine wahllosen Zustände. In der Möglichkeitswolke sind zwar scheinbar divergierende Möglichkeiten enthalten, aber eben nicht alle. Aus der Katze kann beispielsweise kein Kamel geworden sein.
Astrologinnen und Astrologen sind nun aufgefordert, ihre Deutungsweise diesen Erkenntnissen der Teilchenphysik, aber auch den Erkenntnissen der Geisteswissenschaften Rechnung zu tragen, und Horoskopfaktoren ebenfalls „verschmiert“ zu übersetzen. Niemand weiß, wie sich eine Konstellation konkret realisiert. Erst wenn wir die Box aufmachen, oder, anders formuliert: erst wenn Leben gelebt wird, wird eine der Möglichkeiten aus der Möglichkeitswolke real. Zur Möglichkeitswolke von Saturn in Haus zwei gehört ein Mangel an Selbstwert ebenso, wie ein verlässlicher Umgang mit Finanzmitteln. Menschen, die bislang mit Astrologie wenig Berührung hatten, stutzen an dieser Stelle, weil sie den Zusammenhang nicht erkennen. Und sie stutzen noch mehr, wenn wir ihnen weitere Konkretisierungen aus der Möglichkeitswolke nennen: einen steifen Nacken haben, konservative Wertvorstellungen propagieren oder mit kargen Mitteln gut überleben zu können. Von jemandem, der astrologische Beratungen anbietet, erwarte ich, dass er die zahlreichen Facetten der Möglichkeitswolke kennt und, vergleichbar einem Nebelscheinwerfer, Licht in die Angelegenheit bringen kann. Er wird jedoch nie eine kausale Konkretisierung vornehmen können. Dies ist und bleibt die Aufgabe des jeweiligen Horoskopeigners.
Akausalität beim Deuten zu berücksichtigen heißt somit auch, der Hybris zu widerstehen, man wüsste als Astrologe alles ganz konkret. Tun wir nicht. Wir kennen allerdings die Möglichkeitswolken, in denen sich Menschen bewegen. Insofern kann man beispielsweise bei einer astrologischen Berufsberatung durchaus einen Bereich skizzieren, der eine Vielzahl von Berufen beinhaltet, aber andere auch ausschließt. Wie gesagt: Schrödingers Katze kann sich nicht in ein Kamel verwandeln. Und aus einem Menschen mit Saturn im zweiten Haus wird nicht ein Mensch mit Jupiter im zweiten Haus. Doch kennt man den Lebensnebel, in dem man wandelt, kommt man in seinem Leben, in seinem Alltag und mit sich selbst viel besser zurecht. Man sucht nicht länger an den falschen Stellen. Astrologie gleich sozusagen einem Ortungssystem, das dem Einzelnen zwar die Aufgabe überlässt, sein Leben selbst zu realisieren, ihm aber Hinweise gibt, in welcher Region man sich bewegt. So jedenfalls das, was ich „seriöse und hilfreiche Astrologie“ nenne.
Und warum soll das „seriös und hilfreich“ sein?
Weil es ehrlich ist. Weil es wahr ist. Weil es den Menschen, die zur Beratung kommen, in die Lage versetzt, selbständig zu handeln. Seriöse Astrologinnen und Astrologen geben eben nicht vor, was passieren wird. Sie legen niemanden fest oder schränken mit ihren Aussagen ein. Die Möglichkeitswolke eröffnet neue Spielräume. Eine Konkretisierung würde einengen. Die Aussage: „Mit Saturn in Haus 2 leben Sie mit einem Mangel an Selbstwertgefühl“ ist einengend. Solch eine Aussage weist nicht auf das Potenzial hin, das ebenfalls in der Möglichkeitswolke vorhanden ist. Man muss sich ein bisschen mehr Zeit nehmen, die Möglichkeitswolke zu beschreiben. Etwas, das verschmiert ist, braucht Zeit und Raum, um erfasst zu werden. Gelingt dies, öffnen sich auf einmal viele Türen. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, dass Astrologie zu mehr Freiheit verhilft. In diesem Sinne wünsche ich mir mehr Kolleginnen und Kollegen, die akausal deuten, die, statt Hochzeiten oder Scheidungen vorherzusagen, ihren Kundinnen und Kunden dabei helfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ihr Leben zu leben – und nicht das, eines andere. Ihr Leben zu verstehen – statt es nur passiv wahrzunehmen. Ihr Leben zu gestalten – statt es nur zu erleiden. Ein Hoch auf die Quantenphysik, die uns hilft, das Geistige besser zu verstehen. Und ein Hoch auf die verschmierte Astrologie!
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