Will man Astrologie verstehen, muss man eine Vorstellung davon haben, was „Zeitqualität“ ist. Zeitqualität ist ein zentraler Begriff der Astrologie und das ganze Deutungswissen dreht sich um diese Größe. Diskussionen mit naturwissenschaftlichen Gegnern der Astrologie scheitern oft genau daran, dass dieser Begriff nicht hinreichend erläutert bzw. verstanden wurde.
Einig sind sich Gegner und Befürworter der Astrologie darin, dass Zeit eine messbare Größe ist. Wir unterteilen sie in Jahre, Monate, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden und davon abgeleiteten Einheiten. Die Genauigkeit, mit der die Messungen der Zeit heute vonstatten gehen, ist beeindruckend. Die Abweichung bei Atomuhren betragen in einer Millionen Jahre nur eine Sekunde. Doch neben der Messbarkeit, der Quantität, der Tatsache, dass eine Stunde 60 Minuten umfasst und so weiter, gibt es noch den „Zauber des Augenblicks“, die „Atmosphäre einer Stunde“ oder eben die Qualität der Zeit. Sie beschreibt Inhalte, Befindlichkeit und Charakter einer Zeiteinheit.
Rein messbar unterscheidet sich der Tag des Frühlingsanfangs nicht vom Tag des Herbstanfangs. An beiden Tagen ist Tag-und-Nacht-Gleiche, das heißt: Helligkeit und Dunkelheit sind mit je zwölf Stunden gleich lang. Nehmen wir andere, messbare Daten hinzu werden wir feststellen, dass hier ebenfalls Gleichheit herrscht: beispielsweise gibt es keine nennenswerten Unterschiede die Niederschläge an diesen beiden Tagen betreffend. Auch die Temperaturen sind identisch. Trotz all dieser messbaren Äquivalenzen wird kaum jemand bestreiten, dass der Herbst sich anders anfühlt als der Frühling. Frühjahrsbeginn und Herbstbeginn haben unterschiedlichen Charakter. Der „Geschmack“ der Tage ist verschieden. Oder anders formuliert: die Qualität der Zeit ist im Frühjahr eine andere als im Herbst. Die messbare Quantität der beiden Tage mag identisch sein, ihr Charakter ist hoch verschieden.
Inzwischen gibt es einen Wissenschaftsbereich, der sich nebst der Astrologie mit der Zeitqualität beschäftigt: die Chronobiologie. Auch sie bestätigt, dass Zeit unterschiedlich Effekt beinhaltet. So haben Chronobiologen beispielsweise herausgefunden, dass Medikamente je nach Zeit der Einnahme anders auf den Körper wirken. Francis Lévi vom Hospital Paul Brousse südlich von Paris hat bei Darmkrebspatienten die Zeitqualität in die Behandlung integriert. Seine Untersuchungsergebnisse haben gezeigt, dass eine Chemotherapie je nach Uhrzeit der Gabe der Medikamente mehr oder weniger Nebenwirkungen hervorbringt. Mehr als 1500 Patienten hat Lévi mit dieser „Chronotherapie“ bereits behandelt. Die Patienten tragen kleine Computer mit sich herum, die zur optimalen Zeit die Medikamente injiziert – mit erstaunlichem Erfolg: die Wirksamkeit der Behandlung stieg von 29 auf 66 Prozent. Ohne dass die Medikamentenzusammensetzung selbst geändert worden wäre. Nur die Zeitgabe beeinflusst den Heilungsverlauf. In der Astromedizin kennt man diesen Zusammenhang übrigens schon lange. Betrachtet man Zeit als rein messbare Unterteilung in handhabbare Einheiten, so müsste es egal sein, zu welcher Uhrzeit eine Tablette eingenommen wird. Doch die modernsten Forschungsergebnisse zwingen uns zu verstehen, dass Zeit eine bestimmte Qualität innewohnt – eine Aussage, die Astrologen seit Jahrtausenden formulieren.
Zeitqualität spielt nicht nur im Tages- oder Jahresverlauf eine Rolle, sondern auch, wenn wir uns größeren Einheiten widmen. Dabei sind diese so selbstverständlich, dass wir sie manchmal gar nicht mehr besonders beachten: Jede Lebenszeit hat seine eigenen Themen. Stehen während der Pubertät Abnabelung und Widerstand im Fokus, sind es bei der Midlife-Crisis Unzufriedenheit mit dem Erreichten und daraus resultierend Umkehr oder Änderung der Tagesinhalte.
Neben allgemeinen Zeitqualitäten wie Frühling und Herbst oder Pubertät und Midlife-Crisis lohnt es sich, über individuelle Zeitqualitäten nachzudenken. Sie selbst werden Lebenszeiten von sich kennen, bei denen ein ganz bestimmtes Thema im Vordergrund stand, dass die Zeit beherrschte. Wer verliebt ist wird die Qualität der Zeit ganz anders wahrnehmen als derjenige, der einen Trauerfall durchlebt. Mal beschäftigt Sie Ihre berufliche Tätigkeit vorrangig und Sie denken auch nach Feierabend an Ihre Arbeit. Dann wieder steht Ihre häusliche Situation im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und Sie denken auch während der Arbeitszeit an Ihre privaten Angelegenheiten.
Auch wer nicht astrologisch bewandert ist kann Zeitqualität also erfassen; zumindest seine Wahrnehmung dafür schulen. Ist Ihnen beim Einkaufen schon einmal aufgefallen, dass manchmal die Läden voller gehetzter Mitmenschen sind, an anderen Tagen hingegen nicht? Oder kennen Sie die Situation, dass Sie in den Urlaub reisen wollen und alles geht schief: das Taxi gerät in einen Stau, der Zug ist überfüllt, das Flugzeug verspätet sich und schließlich geht auch noch ein Koffer verloren? Ein andermal geht alles glatt. Die Zeitqualität der jeweiligen Reise ist eine ganz andere. Noch ein Beispiel: manchmal erlebt man innerhalb weniger Tage oder Wochen ganz ähnliche Dinge, deren Häufung nicht erklärbar ist. Beispielsweise könnte es passieren, dass Sie in einem Monat gleich mit mehreren Todesfällen konfrontiert werden. Oder innerhalb von nur einem Quartal heiraten alle ihr besten Freunde. Oder Ihre Kollegin bekommt eine Gehaltserhöhung und am gleichen Abend berichtet eine Freundin ebenfalls von einer Gehaltserhöhung. Sicherlich: das kann man als „Zufall“ abtun. Wer wissenschaftlich vorgehen will, das Leben verstehen will, der prüft hingegen, ob eine Struktur dahinter steht; ob sich der Charakter dieser Zeiteinheiten irgendwie erfassen lässt. Und damit sind wir bei der Astrologie angelangt.
Astrologie ist eine Methode, die Zeitqualität erfasst und beschreibt. Mit Hilfe der astrologischen Deutungsweisen wird der Charakter einer Zeiteinheit interpretiert. So entstehen beispielsweise astrologische Prognosen. Eine astrologische Prognose ist eine Idee, was sich zu einer bestimmten Zeitqualität ereignen könnte. Eine gute astrologische Prognose beschreibt daher nicht ein konkretes Ereignis, sondern beschreibt die Zeitqualität. Ich möchte dies mit einem Beispiel verdeutlichen und ziehe dafür als Vergleich die Wettervorhersage heran. Angenommen, mittels der Meteorologie lässt sich ein Regentag vorhersagen. „Regen“ entspricht in diesem Fall der Zeitqualität. Ob Sie persönlich nass werden oder nicht, sagt die Zeitqualität hingegen nicht. Das konkrete Ereignis „nasse Füße“ ist also nichts weiter als eine vermutete Ableitung aus der Zeitqualität. Eine astrologische Prognose ist hilfreicher, wenn ich weiß, dass eine Regenzeit kommt als wenn ich höre, dass ich nasse Füße bekäme. Denn je nach persönlichen Vorlieben und Plänen kann ich mich auf den Regen einrichten, beispielsweise Gummistiefel anziehen oder, wenn ich Spaß daran habe, auch im Regen tanzen.
Die Hauptaufgabe der Astrologie ist es, Zeitqualität zu erfassen – nicht nur in Prognosen. Auch wir selbst, der Mensch ist ein Produkt seiner Zeit. Daher ist der Geburtsmoment für Astrologen so wichtig. Auf Grundlage des messbaren Geburtsmoments (Tag, Monat, Jahr, Ort und Uhrzeit der Geburt) erstellt der Astrologe das individuelle Horoskop. Die Deutung dieses Horoskops beschreibt dann die Qualität dieses Moments. Wir könnten auch sagen: den Charakter dieses Augenblicks. Oder: den Charakter dessen, der in diesem Augenblick geworden ist. Der Mensch ist zu einem bestimmten Augenblick in die Zeit geworfen. So weit wir wissen gibt es vor der Geburt und nach dem Tod für den Menschen keine Zeit. Mit der Geburt sind wir an die Zeit gebunden; an ihren Takt und ihre Qualität. Das Wort Astrologie leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet so viel wie „Lehre von den Sternen“. Schaut man sich die Tätigkeit der Astrologen an, so ist dies irreführend. Eigentlich müsste die Astrologie „Chronologie“ heißen: die Lehre von der Zeit oder noch besser: „Chronosophie“: die Weisheit von der Zeit.
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