Rastlosigkeit
Wie konnte das passieren? Unachtsamkeit?
Bei Rot über die Straße geeilt. Rechtzeitig zum Vortrag kommen. Zum eigenen. Auto übersehen. Unfall.
Das Auditorium im Buchladen wartet vergebens auf den Redner. Joachim Ernst Berendt ist tot.
Aus Unachtsamkeit?
Hamburg, 4.2.2000.
Stille.
Schweigen.
77 ½ Jahre zurück.
Ein Junge wird in Berlin-Weißensee als Sohn eines evangelischen Pfarrers und Leiters einer caritativen Anstalt geboren; und zwar am 20. Juli 1922 gegen 18:00 Uhr.
Geburtshoroskop Joachim-Ernst Berendt Ein Kind, das Ideale entwickeln wird, die über seine eigene Person hinausgehen. Betont ist das Jupiter- / Schütze- / Haus-Neun-Prinzip. Die gesellschaftlichen Planeten am höchsten Punkt. Saturn zudem in Konjunktion zum aufsteigenden Mondkonten. Ein Kind mit einem gesellschaftlichen Auftrag. Ein Kind mit Hoffnung und Neugier, die bisweilen eine Herausforderung darstellen werden für den Vater.
Doch eins nach dem anderen.
Vergessen wir alles, was wir wissen über den weiteren Werdegang dieses Kindes. Verdrängen wir, wenn möglich, für eine kurze Weile alles, was wir bereits gelesen haben über Joachim-Ernst Berendt, packen wir unsere Vorstellungen und vorgefaßten Meinungen beiseite.
Lassen Sie uns den anstrengenden Menschen entdecken, der uns mit seiner Besserwisserei gehörig den Nerv rauben kann. Jemand, der unruhig und fahrig wird, wenn nicht alles nach seinem Wollen und Empfinden gemacht wird. Uranus im Quadrat zu Mond und Mars. Jemand mit Führungsanspruch. Der gleichzeitig behauptet, er kämpfe ja gar nicht für sich, sondern „für die Sache“. Mars in zwölf. Und lassen Sie uns den liebevollen Menschen entdecken, der immer mehr Warmherzigkeit entwickelt. Jemand, der voller Gefühl und Weichheit ist. Der fließend Harmonie entwickeln möchte. Sonne in Krebs im siebten Haus und Medium Coeli in Waage.
Säße mir Joachim-Ernst Berendt gegenüber, so früge ich ihn, ob er den auffälligen Wechsel zwischen aktiven und passiven Zeiten kenne. In einem Moment fühlt er sich vielleicht ganz lebendig und energisch, dann jedoch wieder lethargisch und verträumt. Das jedenfalls läßt die Mars-Mond-Opposition im Horoskop vermuten. Wie bei Tennisspielern ist der Ball eben mal auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite. Die beiden „Tennisspieler“ in seinem Horoskop sind der kampfeslustige junge Held, der voller Sturm und Drang die Welt erobern will. Ein bißchen aus dem Versteck heraus agiert er, und nicht immer an vorderster Front. Obgleich er ein Überzeugungstäter sein kann. Auf der anderen Seite eine phantasievolle Mutter, die es vorzieht, es sich in der vertrauten Häuslichkeit gemütlich zu machen. Was sie jedoch unter Gemütlichkeit versteht, ist schnatternd und gemeinsam mit anderen einer Tätigkeit nachgehen. Dabei die ein oder andere Neuigkeit austauschen, gefällt ihr sehr. Ihr liegt nicht viel am sportlichen Wettkampf – viel lieber würde sie über das Tennisnetz hinweg einen Plausch mit dem Gegner halten und anstatt das Spiel zu spielen lieber darüber reden, wie es wäre, wenn man das Spiel spielte. „Boris“, würde sie sagen (nehmen wir an, der Tennisspieler hieße Boris), „du bist so ein kluger Kerl, siehst die Dinge aus einer ganz anderen Position und doch bist du so still. Erzähl doch mal was und sei nicht immer gleich so biestig und verbohrt. Aber fasse dich kurz: ich habe gleich noch eine Verabredung und nicht so viel Zeit.“
Diese beiden Personen im Tennis-Spiel vereint? Ein ungleiches Paar.
Nun spielen diese innerpsychischen Figuren natürlich kein Tennis; überhaupt handelt es sich ja nicht um echte Personen, sondern diese Bilder beschreiben archetypische Kräfte. „Leidenschaft und Mut“ (Thomas Ring) stehen sich hier spannungsreich gegenüber. Dies kann einen Menschen reizbar und ungeduldig machen sowie sich in einer leicht verletzbaren Art zeigen. Nicht zuletzt deswegen, weil das Umfeld bisweilen als bedrohlich und feindselig erlebt wird – gerade in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse und das unmittelbare Sicherheitsempfinden. Aber wer oder was genau, Herr Berendt, scheint Ihre Bedürfnisse zu demontieren? Vielleicht ein bißchen Sie selbst? Passen Ihre Vorstellungen, was einen „echten Kerl“ ausmacht zusammen mit Ihren Wünschen, versorgt zu werden?
Ein Widerspruch?
Ihn gilt es zu lösen!
Denn auf der anderen Seite verleiht diese Widersprüchlichkeit dem Horoskopeigner ein unerschrockenes Gemüt und in der anregenden Verbindung von Psyche und Körper kann sich eine spontane, lebensvolle und anregende Synthese zwischen Seele und Trieb entfalten.
Desweiteren weist die Verbindung dieser Kräfte auf das Talent hin, unabhängig von der Herkunftsfamilie den eigenen Weg zu gehen. Man kann aus den Traditionen ausbrechen, falls dort die persönlichen Bedürfnisse nicht angemessen berücksichtigt werden. Joachim-Ernst Berendt hat dies erfolgreich umgesetzt – ohne dabei in Dogmatismus, Überheblichkeit oder Haß zu verfallen.
Zugleich verfügt man über die Möglichkeit, Körper und Seele gleichermaßen zu stimulieren. Gönnte Joachim-Ernst Berendt seinem Körper etwas Lebendigkeit und Bewegung, wirkte sich das positiv auf sein Gemüt aus und umgekehrt. Wichtig dabei ist es, darauf zu achten, dass negative Gefühle wie Ärger und Zorn ebenso körperlich ausgedrückt werden. Dazu muß man nicht in den Boxring steigen; Zähne fletschen oder mit den Füßen aufstampfen genügt. Auch Schreien wäre eine schöne Sache. Heruntergeschluckte Wut liegt bei Joachim-Ernst Berendt ansonsten buchstäblich im Magen.
Eine frühe Trennung von der Mutter (sie floh die Familie, als Joachim-Ernst Berendt drei Jahre alt war, wollte sich von ihrem Mann trennen, den sie als einengend und tyrannisch empfand) kann zudem durch die Mond-Mars-Opposition angezeigt werden. Die Spitze des vierten Hauses in Widder unterstreicht diese Erfahrung. Damit gehen in der Regel Existenzängste einher, die sich rational selten begründen lassen. Sie sind Folge eines früh verspürten Mangels. Der kleine Junge vermißte seelische Wärme und Geborgenheit und fühlte sich zurückgelassen von seiner Mutter, die der Enge und Strenge des Familiensystems entfloh. Dies kann im weiteren Lebensverlauf zu einem ambivalenten Frauenbild führen. Formal und nach außen hin wird Unabhängigkeit und Eigenständigkeit deklamiert – das Bedürfnis nach echter Geborgenheit und Nähe bleibt jedoch bestehen. Es kostet Mut, dieses Bedürfnis auch einzugestehen, und noch mehr, es auch einzufordern.
Eine Fülle von Ideen, Begehren, Plänen und Ziele bestimmten den Lebensalltag des Horoskopeigners. Dabei ist Ruhe vermutlich eher ein Fremdwort gewesen. Joachim-Ernst Berendt war sicherlich stets mit irgend etwas beschäftigt. Dabei muß diese Rastlosigkeit nicht zwangsläufig nach Außen in Erscheinung getreten sein. Es handelt sich vielmehr um ein inneres Getrieben-Sein, das ihn mit vielen Menschen in Kontakt brachte. Das Reden, Kommunizieren, der Austausch über weltanschauliche Ansichten, über die großen Zusammenhänge ebenso wie über alltägliche Details, das Diskutieren und gelegentlich auch ein harter Disput sind seine Stärke gewesen. Und wenn soeben von dem einen oder anderen harten Disput die Rede war, so ist dennoch die Tendenz ersichtlich, dass sich hier ein friedliebender Mensch engagiert. Der Kampf gilt nicht um seiner selbst willen und auch nicht um das eigene Ego – der Kampf gilt einer Sache, einer Idee, einer Überzeugung. Das Engagement wird dabei um so mehr herausgefordert, wenn Joachim-Ernst Berendt Ungerechtigkeit und Unausgewogenheit wahrgenommen hat. Sein Einsatz galt stets den Schwächeren. Dass dabei auch Anerkennung für ihn selbst ein willkommenes Nebenprodukt war, wird er nicht bestritten haben. Denn es versüßt den Mangel, den man deutlich spüren kann: das Eintreten für die eigenen Interessen fällt schwer (Mars im zwölften Haus). Streitigkeiten aller Art sind angstbesetzt. Wahrscheinlich fehlte es auch an einem adäquaten Lernfeld für faire und offene Konfrontationen.
Aber auch Zeiten des grenzenlosen Einsatzes sind zu erwarten. In solchen Phasen gab Joachim-Ernst Berendt alle Power in ein bestimmtes Projekt, zum Beispiel die Realisierung eines internationalen Jazz-Festivals. Persönliche Bedürfnisse, Schlaf, Ruhe, Essen spielten dann eine untergeordnete Rolle. Ein Arbeitstier, immer im Einsatz. Vielleicht sogar mit der Tendenz zur Sucht; Workoholic.
Seiner Radix nach brachte Joachim-Ernst Berendt die Fähigkeit mit, Neues zu erproben. Er hat das Versprechen seines Geburtshoroskopes, Pionier zu sein, wahr gemacht. Nicht nur durch seine bahnbrechenden Gedanken und Forschungen zum Thema Hören, sondern bereits vorher durch seine Aufbauarbeit des neuen Radiosenders Südwestfunk. In Baden-Baden war er ein Mann der ersten Stunde. Und widerborstig konnte er sein, wenn es notwendig war. Ein Rebell; ganz in der Kraft des Mars-Uranus-Quadrats.
Auch, wenn sich bisweilen Visionen und konkrete Umsetzung im Weg zu stehen schienen, wußte er zwei Talente mit zunehmendem Alter immer besser miteinander zu verknüpfen: Rebellische Wut war ihm dabei ein Ansporn, die alten ausgetrampelten Pfade zu verlassen und seinen bisweilen ungewöhnlichen Impulsen zu folgen. Günstig wäre es gewesen, wenn er Mitstreiter für seine Sache gefunden hätte – hier konnte er vor allem auf Musiker vertrauen. Zwar war er seinem Geburtshoroskop nach eher ein Einzelkämpfertyp, aber förderlich ist es mit einer Mars-Uranus-Kombination, nicht nur egoistischen Zwecken Aufmerksamkeit zu schenken. Und Mitstreiter weisen uns eben immer wieder darauf hin.
„Wenn es nicht um den Glauben geht, geht es um Nichts.“ Mir ist nicht bekannt, dass Joachim-Ernst Berendt diesen Ausspruch getätigt haben soll – aber er hätte können. Sein Horoskop weist durch die Schütze-Betonung eine starke Orientierung zu Glaubensfragen auf. Hoffnung und Optimismus sind mit den Fragen nach dem Sinn des Seins verbunden. Was ist des Pudels Kern? Was hält die Welt im Innersten zusammen? Wofür sind wir hier?
Ständig neue Eindrücke sind in diesem Zusammenhang hilfreich. Eindrücke, die man etwa bei Reisen oder im Kontakt mit Menschen anderer Kulturen gewinnen kann. Also durch eine Änderung des Blickwinkels. Durch das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten stößt Joachim-Ernst Berendt dabei auf das Besondere. Ein Beispiel: Es mag wenige Menschen geben, die dem Plural in der deutschen Sprache besondere Aufmerksamkeit widmen – dass es auch ohne geht, zeigt das Chinesische: dort sagt man auch zu vier Stühlen „vier Stuhl“. Es geht also auch ohne Plural. Auf solche Erkenntnisse stößt man über den Umweg von Außen, von einer anderen Position, einer anderen Philosophie aus.
Dabei geht es weniger um Rezeption, sondern vornehmlich um das Selbst-Erleben. Die Ausweitung des eigenen Raumes, die persönliche Expansion steht im Vordergrund. Auch darf man nicht vernachlässigen, dass zu weltanschaulichen und philosophischen Fragestellungen eine gefühlsmäßige Beziehung hergestellt werden kann (und eventuell auch soll). Eine rein intellektuelle Beschäftigung zielt deutlich neben die Fähigkeiten und Talente des Horoskopeigners. Schließlich will auch die Krebs-Sonne zu ihrem Recht kommen.
Vor allem beim Denken und Philosophieren zeigen sich dabei die besonderen Talente, unabhängig zu sein und neue Wege zu beschreiten. Somit erarbeitete sich Joachim-Ernst Berendt im Laufe des Lebens eine ganz eigene Weltanschauung, unterstützt durch non-konforme Methoden und Ansichten wie z.B. Religionen anderer Kulturen, Astrologie und Esoterik. Auch die Beschäftigung mit „anderer Musik“ gehört dazu. Denn Jazz war nach der Terrorzeit der nationalsozialistischen Diktatur nicht nur unbekanntes Terrain, sondern auch weiter verpönt und befremdlich. Die „entartete“ Musik ließ jedoch einen neuen Blick auf die Hörgewohnheiten, auf die Gewohnheiten, auf das Leben im Nachkiegsdeutschland zu. Dass Joachim-Ernst Berendt sich dieses Thema zueigen gemacht hat, wird von Herrscher des ersten Hauses im neunten zudem mit angezeigt.
Durch ein besonderes Gerechtigkeitsempfinden verliert Joachim-Ernst Berendt dabei nie soziale Minderheiten, gesellschaftlich randständige Ansichten und die Menschen, die diese Ansichten vertreten, aus dem Blick. Diese Übersicht ermöglicht es ihm, Verbindungen zu schaffen zwischen Menschen, Meinungen und Systemen. Auch ökologische und pazifistische Überzeugungen können dabei eine Rolle spielen. Pluto, Herrscher des elften Hauses in Konjunktion mit Merkur in sieben ist eben nicht nur eine Bürde, sondern zugleich die Fähigkeit, mit besonderem Ehrgeiz für die eigenen Ideale das Wort zu ergreifen.
Dass dies gleichzeitig als Herausforderung erlebt werden kann, mag belebend wirken. Ein brennendes Verlangen, die Welt zu verstehen und zu entdecken, sie zu bereisen und in die unterschiedlichen Kulturen einzutauchen, führte Joachim-Ernst Berendt rund um den Globus. Es versteht sich von selbst, dass er dabei auf Pauschalreisen, die nur schöne (geschönte?) Fassaden vorzeigen, verzichtete, und er sich lieber selbst ein Bild machen wollte.
Dies ganze Hinterfragen nach Sinn und Bedeutung fällt einem hörig Gläubigen nicht ein. Denn es verlangt (unter Umständen) eigenständiges Denken und Forschen. Es sind Fragen, die sich Joachim-Ernst Berendt mit Sicherheit immer wieder gestellt hat – denn reines Nachbeten alter Glaubenssätze waren seine Sache nicht. Das Bedürfnis, den eigenen Horizont zu erweitern, paart sich hier in wunderbarer Weise mit der Fähigkeit, hinter die Fassaden zu blicken. Joachim-Ernst Berendt ist seiner Radix nach ein Mensch gewesen, der den Schleier des Bildes zu Sais lüften konnte, ohne dabei zu erstarren. Vielleicht hat er sich, ähnlich wie Perseus bei der Enthauptung Medusas, eines Spiegels bedient. Mit Hilfe des Spiegels konnte Perseus der Schrecklichen ins Gesicht schauen, ohne dabei zu Stein zu erstarren. Joachim-Ernst Berendts Spiegel waren womöglich andere Menschen – Sonne, Merkur und Pluto im siebten Haus. Sie waren seine „Forschungsobjekte“ – ohne dabei zum Objekt degradiert zu werden (Krebs).
In Gesprächen wird vermutlich der Eindruck entstanden sein, dass er selbst sich zurückhalte, was die Gesprächspartner/innen zu noch mehr Selbstexploration geführt haben dürfte.
Grundsätzlich zeigt die Pluto-Merkur-Konjunktion, aber auch der Herrscher des dritten Hauses in acht und der aufsteigende Mondknoten im neunten Haus am Saturn einen sehr tiefen und zähen Denker, der so lange um ein Thema kreist, bis er diesem auf den Grund gekommen ist. Die Gefahr dabei liegt darin, immer gedanklich um ein Problem herum zu kreisen – bis das Problem selbst die Gedanken in die Hand zu nehmen scheint. Der pathologische Begriff dazu: Zwangsgedanken.
Paradoxerweise eröffnen sich neue Perspektiven und gedankliche Lösungen vor allem dann, wenn von dem konzentrierten Festhalten an Gedanken und Gedankenabläufen abgelassen wird. Plötzlich entstehen dann die entscheidenden Einfälle und ein Sachverhalt wird in seiner ganzen Tiefe erfaßt.
Es fällt nicht leicht, dies als Talent als solches frühzeitig zu erkennen. Denn eine frühkindliche, nonverbale Botschaft ist zu vermuten: Joachim-Ernst Berendt wurde vermutlich mit dem Gefühl konfrontiert, dumm zu sein. Dass seine Meinung nichts galt, seine Wahrnehmung, sein Wissen und seine Worte unterdrückt wurden, seine Stimme nichts zu sagen hatte, er nicht den richtigen Ton fand. Dies zeigt sich eindrucksvoll in seiner Biografie. Dort berichtet der inzwischen 70jährige, wie „Onkel Erdmann“, ein Studienrat, der „gerne Nazi-Hymnen und nationale Lieder“ (S. 114 – Quellenangabe am Textende) sang, dem jungen Joachim-Ernst über Wochen und Monate hinweg eintrichterte, dieser sei nicht musikalisch und könne nicht einwandfrei intonieren. „Dabei hatte ich noch kurz vorher – mit 12 und 13 – in Vaters Kirche im Terzett mit zwei ausgebildeten Sängerinnen gesungen. Mein Jungensopran lag hoch über ihnen: Arien, Gesänge aus Händels Messias … Bach … Kirchenlieder. Traf jede Note genau“ (S. 114). Am Ende muß Joachim-Ernst Berendt es geglaubt haben. Erst im Alter von 60 oder 65 konnte er sich mühsam und langsam von diesem Glauben, von dieser Indoktrination Stück für Stück befreien – und seine Intonationsschwäche ging langsam zurück. „Aber so sicher wie … vor dem sich über mich lustig machenden Studienrats-Onkel konnte ich nie mehr intonieren“, schreibt er weiter.
Anschaulich beschreibt diese Episode (welch verharmlosender Begriff), wie in der Kindheit die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten unterdrückt wurden. Nicht selten ziehen sich Menschen mit dererlei Erfahrung ganz nach Innen zurück und sind vorsichtig, wenn es darum geht, die eigene Meinung zu äußern. Auf Kritik jeder Art reagieren sie außergewöhnlich heftig. Auch Joachim-Ernst Berendt behielt dies bei und nannte es sein „Kritikersyndrom“: Angst, vor einer vernichtenden Kritik, die ihn mundtot machen könnte. Vernichtung, die durch das Quadrat von Jupiter auf Merkur-Pluto noch mal feurige Unterstützung erhält. Auch als erwachsener, international erfolgreicher Autor, Festival-Organisator, Produzent und Radiomacher der ersten Stunde saß ihm diese Angst noch im Nacken. Gleichzeitig war er jemand, der sich selbst der manipulativen Macht und der weitreichenden Konsequenz von Worten bewußt war. Jemand, der um die Magie der Worte wußte. Er wählte seine eigene Sprache daher mit Bedacht. Verant-wort-ungsvoll ging er als Erwachsener mit Wissen und Worten um – auch wenn es seine eigene Karriere bedrohte. Die Auseinandersetzung mit Helmuth Hammerschmidt, Intendant des Südwestfunks, zeigt dies deutlich. Dabei ging es um keine persönliche Feindschaft, sondern um die Idee des freien, staatsfernen Radios, die, nach Joachim-Ernst Berendts Einschätzung, von Hammerschmidt nachhaltig demontiert wurde. Joachim-Ernst Berendt hat dagegen gekämpft, hat für den Erhalt der freien Meinungsäußerung gekämpft. Dieser Kampf dauerte mehrere Jahre und ging ihm buchstäblich an die Leber: „Hammerschmidt verdanke ich, daß eine Hepatitis … chronisch geworden ist“ (S. 300).
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