Sie alle waren schneller: Ungarn, Mazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegovina, Slowenien, Slowakei. All diese Ländern hatten sich der Mitteleuropäischen Zeit bereits angeschlossen, als in Deutschland die Uhren noch anders gingen. Ziemlich anders, wie wir noch sehen werden. Zehn Jahre vergingen, bis am 12. März 1893 der deutsche Kaiser endlich „seinen Wilhelm“ unter das Reichsgesetzblatt Nr. 7 setze, das die „Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung“ regelte. Darin heißt es: „Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich“.
Vorher sah die Situation anders aus: Im Alltag kam es auf Sekunden oder Minuten, ja mitunter auf Stunden nicht genau an. Jeder Ort hatte seine eigene Zeit. Doch das war nicht das Ergebnis reiner Willkür, sondern die einzelnen Regionen orientierten sich an dem Zeitgeber, den sie am Himmel beobachteten: der Sonne.
Die Sonne teilt den Tag in eine Licht- und eine Nachtseite. Der Sonnenhöhepunkt eines Tages (wir sprechen auch vom „Kulminationspunkt“) galt als Mittagsmoment: 12 Uhr. Da die Orte nun auf unterschiedlichen Längengeraden liegen, die Sonne von der Erde aus gesehen also zu verschiedenen Zeitpunkten genau über einem Menschen am Himmel steht, war es in Berlin ca. 25 Minuten früher zwölf Uhr mittags als in Köln. Für die Menschen bis einschließlich des 18. Jahrhunderts war dies jedoch kein Problem. Ohne Telefon, Internet oder schnelle Verkehrsverbindungen war es dem Berliner ziemlich schnurz, dass man in Köln 25 Minuten später zur Arbeit ging und umgekehrt störte es die Kölner nicht, dass der Feierabend in Berlin 25 Minuten früher eingeläutet wurde. Alles hätte so bleiben können, hätte nicht Anfang des 19. Jahrhunderts die Eisenbahn in Deutschland ihren Betrieb aufgenommen.
Die Fahrplangestaltung machte es nötig, eine einheitliche Zeit einzuführen. Denn wie hätte man es sich erklären sollen, dass man gegebenenfalls in einem Ort später losfuhr, um im nächsten früher anzukommen? Außerdem hätte jeder Bahnhof eigene Fahrpläne benötigt. Ein Riesenchaos. Zunächst behalf man sich, indem man die Fahrpläne auf eine Zeit ausarbeitete; doch die anderen Ortschaften mussten dann kompliziert umrechnen. So wurde fast im gesamten norddeutschen Raum die Abfahrzeit eines jeden Zuges in Berliner Zeit angegeben und in jedem Ort außerhalb Berlins musste dies dann in die eigene Zeit umgerechnet werden. Für den Zielbahnhof jedoch musste man schon wieder eine andere Umrechnungsformel nutzen. Im Süddeutschen gab es etwas ähnliches; hier nutzte die Eisenbahn die Münchner Zeit als Angabewert. Um dem Durcheinander beizukommen bot es sich an, Zeitzonen einzuführen.
Genau das hat man schließlich getan, nämlich auf der Internationalen Meridiankonferenz im Oktober 1884 in Washington, DC. Doch natürlich muss eine derartige Absprache auch in den einzelnen Ländern und Regionen lokal umgesetzt werden. In Deutschland geschah dies 1893 mit dem schon oben zitierten Gesetz. Am 12. März 1893 erlassen trat es bereits zum 1. April des gleichen Jahres in Kraft. Seitdem schlagen in Deutschland überall die Uhren im gleichen Moment. Spöttisch könnte man auch sagen: in ganz Deutschland gehen die Uhren falsch; nur in Görlitz ticken sie richtig. Denn Görlitz liegt exakt auf dem 15. Längengrad, der als Orientierung herangezogen wurde. Dort, auf dem 15. Längengrad ist die „wahre Sonnenzeit“ mit der MEZ in Übereinstimmung.
Was hat das nun alles mit Astrologie zu tun?
Astrologie ist ein System, Zeit und Raum zu erfassen. Wir Menschen bewegen uns in diesen Dimensionen und mithilfe des Horoskops, das eine Darstellung der raumzeitlichen Gegebenheiten des Geburtsmoments ist, wird das Eingebundensein in diese Dimensionen Gegenstand philosophisch-menschlicher Betrachtungen. Wer ein Geburtshoroskop erstellen möchte, benötigt daher stets Angaben zum Geburtsort (Raum) und zum Geburtsmoment (Zeit). Seit dem 1. April 1893 wird diese Zeit in Deutschland als MEZ angegeben. Doch in der Astrologie interessiert uns nicht ein gemittelter Wert, der de facto nur dem Sonnenstand des 15. Längengrades enspricht. Die Mitteleuropäische Zeit tut ja so, als befänden wir uns ständig in Görlitz – doch die Menschen werden eben überall in Deutschland geboren. Um ein Horoskop zu berechnen, muss man also die Mitteleuropäische Zeit, die auf dem Geburtsschein angegeben ist, wieder zurückrechnen zu der ursprünglichen Ortszeit. Wir wollen wissen, wo genau vom Geburtsort aus die Sonne, der Mond und die Planeten unseres Sonnensystems am Himmel zu sehen waren. Die Mitteleuropäische Zeit ist einerseits eine Vereinfachung, reißt uns andererseits aber heraus aus dem Eingebundensein zeitlicher Veränderungen vor Ort. Die Astrologie holt uns hier zurück auf die realen Gegebenheiten, auf den Boden der Tatsachen sozusagen. Auf manchen Horoskopzeichnungen ist daher auch die „Wahre Ortzeit der Geburt“ (manchmal auch „Wahre Sonnenzeit der Geburt“) zusätzlich vermerkt. Das ist die Zeit, die eine mittelalterliche Sonnenuhr an Ihren Geburtsort zu Ihrem Geburtsmoment angezeigt hätte.